„Dankbarkeit, vor allem Dankbarkeit gegenüber früheren Generationen, gegenüber unseren Eltern, Grosseltern, Vorfahren und all jenen, dank denen unsere Vorfahren ihr Leben bestreiten konnten, ist für Simmel der «fruchtbare Gefühlsboden», ohne den es keine Gesellschaft, kein Zusammenleben, keine Solidarität geben kann. Dankbarkeit schafft Bindung, schafft Verbindung, ist «Verbundensein» mit dem, was war, mit dem, was ist, aber auch mit dem, was noch kommen wird. Man ist seinen Eltern dankbar dafür, dass man überhaupt lebt, ohne selber etwas dafür getan zu haben. Man ist aber auch dankbar für all die Hervorbringungen und Errungenschaften früherer Generationen, ohne deren Opfer, Leistungen und Erkenntnisse sich das eigene Leben trotz aller Mühsal und ungelösten Problemen noch viel schwieriger und widriger gestalten würde. Dankbarkeit ist der Gemütsgrundzustand des Menschen, wenn er es geschafft hat, über sich hinauszuempfinden.
In der Dankbarkeit schwingen Respekt und Demut gegenüber dem Gewordenen mit. Dankbarkeit ist das Bewusstsein, dass das Leben ein Geschenk ist und auch eine Verpflichtung, das Beste aus dem Geschenk zu machen. Logisch zwingend ist Dankbarkeit die Absage an ein revolutionär umstürzlerisches, sagen wir ruhig: autistisches Tabula-rasa-Denken, das alles wegpfaden will, was sich einem auf dem Weg zur totalen Selbstverwirklichung entgegenstellt. Die Greta-Fans huldigen diesem aggressiven Autismus, diesem Jugend-Kult im Namen der Weltuntergangsvermeidung, der sich jetzt auch im Berner Bundeshaus anschickt, die Verhältnisse umzupflügen. Halten wir dagegen: Dankbarkeit ist Bescheidenheit, ist vor allem die Einsicht, dass meine persönlichen Sorgen, Hoffnungen und Meinungen nicht das Mass aller Dinge sind. «Dankbarkeit», wusste schon Cicero, «ist nicht nur die grösste aller Tugenden, sondern auch die Mutter von allen.» Wer dankbar ist, entkommt dem Kerker seines Ichs. Dankbarkeit, nicht Eigennutz ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.“ (Roger Köppel in Weltwoche 51/2019, 18.12.2019)