Das neue von den eidgenössischen Räten beschlossene Bespitzelungsgesetz ermöglicht Sozialversicherungen, Versicherte bei Verdacht auf Missbrauch durch Detektive observieren zu lassen. Die Regeln gelten nicht nur für die Invalidenversicherung (IV), sondern auch für die Unfall-, die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung. Neben Bild- und Tonaufnahmen sind auch technische Instrumente wie GPS-Tracker erlaubt, die an Autos angebracht werden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem wegleitenden Entscheid im Oktober 2016 die Schweiz gerügt, weil sie den Einsatz von Privatdetektiven zur geheimen Überwachung einer Versicherten zuliess, obwohl es an einer gesetzlichen Grundlage fehlte. Das Bundesgericht anerkennt zwar, dass die verdeckte Überwachung das in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Video- und Fotoaufnahmen können jedoch als Beweismittel zugelassen werden, auch wenn die Betroffenen laut Gericht einen „bescheidenen Grundrechtseingriff erleiden“.Das Interesse an der Wahrung der Privatsphäre sei laut dem Gericht weniger stark zu gewichten als das erhebliche Interesse der Öffentlichkeit an einer Verhinderung von Versicherungsmissbrauch.
Diese Maxime könnte sinngemäss auch für unerlaubte Ton- und Bildaufnahmen bei Behördenmitgliedern und Amtsstellen gelten, denn das Interesse der Öffentlichkeit ist nicht weniger erheblich beim Verdacht von Amtsmissbrauch und Willkür sowie als Beweisgrundlage für das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Diskriminierungsverbot.
In Art. 17 EMRK beschreibt das Verbot des Missbrauchs der Rechte
„Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.“
Zwar sieht Art. 5 der EMRK einen abschliessenden Katalog für rechtmässige Freiheitsentzüge vor, allerdings muss jeder Person, die nach Art. 5 Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlichen Aufgabe ermächtigten Person vorgeführt werden (mit Betonung auf unverzüglich!).
Die betroffene Person hat Anspruch auf ein Urteil innert angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens.
Anmerkung:
Eine Überwachung mit oder ohne GPS im öffentlichen und privaten Raum stellt meines Erachtens ein Freiheitsentzug dar, wie der einer „elektronischen Fussfessel“.
Weiter sieht die Konvention über die Menschenrechte vor, dass jeder Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Antragsrecht zusteht, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzuges entscheidet und ihre Freilassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist.
Anmerkung:
Bei IV-Rentner kommen vorwiegend zwei Optionen in Frage: 1. Es besteht der dringende Verdacht einer möglichen Straftat, indem sie beispielsweise angeben, auf den Rollstuhl angewiesen zu sein, in der Freizeit jedoch „Schwarzarbeit“ leisten oder Ziegel auf dem Dach montieren. 2. Psychisch kranke Menschen sind in erheblichem Ausmass eigen- oder fremdgefährdet.
Aber auch hier gilt, dass die IV-Stelle diesen Passus nicht als Handlung missbrauchen darf, um die in der Konvention festgelegten Rechte und und Freiheiten einer Person in unverhältnismässiger Weise einzuschränken oder abzuschaffen. In beiden Fällen muss den betroffenen Personen zwingend das rechtliche Gehör gewährt werden und dies unverzüglich und mit Vorlage entsprechenden Beweismittel.
Im letzteren Fall ist das öffentliche Interesse weniger stark gewichtet als beim Verdacht auf Versicherungsbetrug, weshalb eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs stärker zu gewichten ist, als die unerlaubte Überwachung einer IV-Rentnerin!