Die Tatsache, dass das Volk vor zwanzig Jahren den Beitritt der Schweiz zum EWR ablehnte, wäre kein Grund, es nicht noch einmal zu versuchen. Zum einen war das Nein damals extrem knapp ausgefallen, zum anderen sind schon andere wichtige Beschlüsse erst im zweiten oder dritten Anlauf gefasst worden, beispielsweise der Beitritt zur UNO. Meine Ablehnung gründet nicht im damaligen Nein, sondern in dem, was inzwischen passiert ist.
Die Schweizer Wirtschaft ist heute in einem ungleich grösseren Ausmass in den europäischen Binnenmarkt integriert als damals. Entstanden ist in der Zwischenzeit das ganze bilaterale Vertragswerk und in vollem Gang ist der Prozess des „autonomen Nachvollzugs“, das heisst der Angleichung des schweizerischen Rechts an dasjenige der EU. Offenkundig ist nun aber sehr viel Sand ins bilaterale Getriebe gekommen. Die Verhandlungen über weitere Marktöffnungsschritte sind auf Eis gelegt; die EU will sie nicht fortsetzen und schon gar nicht abschliessen bevor die Schweiz die „institutionelle Frage“ zufriedenstellend beantwortet hat.
Welche Antworten würde der EWR-Beitritt liefern? (Ob er in der Volksabstimmung eine Mehrheit fände, lasse ich einmal offen, melde aber Zweifel an, denn nur schon im angestrebten Energieabkommen steckt mit der von der EU geforderten vollständigen Strommarktliberalisierung eine sehr hohe innenpolitische Hürde). Der EWR-Beitritt brächte erstens die vollständige Integration in den Binnenmarkt, würde also sämtliche noch geschlossenen Marktzugänge öffnen. Das wäre für die schweizerische Wirtschaft vorteilhaft. Der EWR-Beitritt brächte zweitens eine klare Antwort auf die institutionelle Frage: Die Schweiz müsste alle von der EU neu erlassenen oder geänderten Marktregeln übernehmen und sie müsste sich in Streitfällen dem Urteil des EFTA-Gerichtshofes unterziehen, der im Prinzip der verlängerte Arm des Europäischen Gerichtshofes ist. Der autonome Nachvollzug würde durch den automatischen abgelöst, die letztinstanzliche Gerichtsbarkeit ausser Landes gebracht. Ausgeweitet würde das Mitspracherecht bei der Entscheidvorbereitung für die EU. Die Schweiz kann am Beispiel ihrer zwei EFTA-Partnerstaaten Norwegen und Liechtenstein im Detail studieren, was eine Zugehörigkeit zum EWR bedeuten würde. Norwegen hat seine Erfahrungen kürzlich in einer umfassenden Studie präsentiert und kritisch bewertet, die liechtensteinische Regierung äusserst sich ausgesprochen positiv.
Die Knacknuss ist der mit dem EWR-Beitritt verbundene Demokratieverlust für die Schweiz. Schon der im Rahmen des Bilateralismus praktizierte „autonome Nachvollzug“ führt uns diesbezüglich an die Grenzen des Erträglichen, mit dem EWR-Beitritt würden diese Grenzen definitiv überschritten. Mitsprache ist kein valabler Ersatz für verlorene nationale Selbstbestimmung. Diese kann nur kompensiert werden durch internationale Mitbestimmung. Wenn wir schon alles übernehmen sollen, was die EU-Staaten beschliessen, dann sollten wir zu diesen Staaten gehören und nicht zu denen, die im Vorzimmer auf die Entscheide der anderen warten. Die Passivmitgliedschaft ist eine für unser demokratisches Land unhaltbare und unwürdige Position. Da ist der Beitritt zur EU doch klar vorzuziehen, denn der brächte neben der vollständigen wirtschaftlichen Integration und der Unterordnung unter die europäische Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit die mit allen Rechten verbundene Aktivmitgliedschaft. Der beim autonomen wie beim automatischen Nachvollzug stattfindende Verlust an nationaler Selbstbestimmung wird durch den Gewinn an internationaler Mitbestimmung aufgewogen. Das ist angesichts der Tatsache, dass in der EU die Entscheidungen entweder einstimmig oder mit qualifiziertem Mehr gefällt werden, ein gewichtiger Gewinn. Die Schweiz könnte ihn noch aufwerten durch gezielte innenpolitische Reformen wie die Ausweitung des Referendumsrechts und des Initiativrechts auf die europapolitische Ebene.