Das grosse Ablenken und die Folgen von Oslo
Die Wirtschaft stockt, die USA steht am finanziellen Abgrund, die Eurozone kämpft gegen Abwertung und Verschuldung und in Ostafrika spielt sich eine grosse Hungerstragödie ab. Nur in der Schweiz, so macht es den Anschein, ist alles gut, trotz starkem Franken und schlechtem Ferienwetter. Unser Land muss eine Insel der Glückseligen sein. Ein Ort, an dem sich die Parteien nicht einmal in einem Wahljahr um die besten Lösungen bewerben. Wichtige Entscheide stehen an: Welches Finanz- und Wirtschaftssystem verteilt die Gewinne gerechter, spekuliert nicht weiter mit Nahrungsmittel und Landwirtschaftsland und verbraucht die letzten natürlichen Ressourcen? Welche Energiepolitik ist zukunftsfähig - die erneuerbaren Energieträger gekoppelt mit Effizienz oder die gefährliche Atomkraft? Welche Klimapolitik trägt dazu bei, dass nicht immer mehr Land zu Wüste wird wie in Ostafrika? Welche Sozialpolitik trägt zum solidarischen Ausgleich bei, damit alle Menschen in Würde leben können? Wie gestalten wir das Zusammenleben in unserer kulturell vielfältigen Gesellschaft? Wie nehmen wir die Verunsicherung der Bevölkerung über den immer schnelleren Wandel auf? Bis heute findet darüber keine öffentliche Debatte statt, nur das grosse Ablenken. CVP, FDP und SVP beteuern uns in drei Varianten, dass sie die Schweiz lieben, sagen aber nicht, was sie konkret dafür tun wollen. Die FDP hat sich im Nationalrat bei der entscheidenden Abstimmung über den neuen Bau von Atomkraftwerken der Stimme enthalten und alle weiteren Ausstiegsszenarien abgelehnt. Sie versucht seither, das Thema totzuschweigen. Dasselbe gilt für die SVP, die auch nach der Atomkatastrophe von Fukushima, unbelehrbar an Atomkraftwerken festhält. Sie nimmt damit offenkundig in Kauf, dass bei einem nuklearen Unfall praktisch die ganze Schweiz für hunderte von Jahren unbewohnbar würde. Schöne Heimatliebe, das!. Die Absicht der SVP ist offensichtlich: sie will von der heiklen Atompolitik ablenken und die Zuwanderung und Europapolitik zum Wahlkampfthema machen. Dabei greift sie zu immer heftigerer Polemik. Sogar die Wirtschaftsverbände sind diesmal entsetzt, weil die SVP mit der angekündigte Initiative gegen Masseneinwanderung die Bilateralen Verträge aufs Spiel setzt. Zudem packt die SVP die Sorge der Bevölkerung über unsere Umwelt und die bedrohte Landschaft auf perfide Art mit hinein. Es ist die gleiche Partei, die systematisch in den letzten zwei Jahrzehnten gegen jeglichen Versuch antritt, unsere Landwirtschaftsland mit einer griffigen Raumplanung zu retten, die gegen jeglichen Natur-, Umwelt- und Klimaschutz stimmt. Die SVP, die sich für jede neue Strasse eingesetzt und für jedes neue Shoppingcenter auf der grünen Wiese stark macht, kommt nun und schiebt diese durch die bürgerlichen Mehrheiten auf Gemeinde, Kantons- und Bundesebene entschiedene Verstädterung der Schweiz den nicht stimmberechtigten Ausländern in die Schuhe. Mit Verlaub, das ist durchsichtig und schlicht unglaubwürdig. Doch es zeigt in erschreckender Art auf, in welch radikalem Populismus wir gelandet sind. Und es ist vielleicht eine Erklärung dafür, warum viele Leute nicht mehr wählen gehen. Es löscht vielen schlicht ab. Sie realisieren, dass es in der Politik nicht mehr um die Diskussion der besten Lösungen für das Land geht, sondern nur noch um Recht zu haben oder nicht, um Macht zu haben oder nicht und um darum, wer die Schweiz inniger liebt. Genau bis hier habe ich diesen Gastkommentar vor dem grauenhaften Attentat und Massenmord an jungen, politisch engagierten DemokratInnen in Oslo durch einen Rechtsextremen geschrieben. Er hat sie hingerichtet, weil sie eine andere Gesinnung, eine andere politische Meinung hatten…. Die letzten Tage war ich sprachlos vor Entsetzen, wie die Menschen in Norwegen und überall. Es hätte auch in der Schweiz passieren, auch unsere Kinder treffen können. Das Leid der Eltern und Freunde ist grenzenlos. Es macht mich auch betroffen, weil es ein gezielter Angriff auf die Demokratien Europas ist. Permanente Hetze, Hass und Fremdenfeindlichkeit bedrohen sie. Oslo wird ein Wendepunkt werden, hoffentlich auch für die Schweiz. Wir müssen für unsere offene Demokratie und ihre Institutionen wieder mehr einstehen. Demokratie heisst Minderheiten achten und Macht teilen. Demokratie heisst Freiheit, Toleranz, Vielfalt der Meinungen und faires Ringen um gemeinsame Lösungen, ohne Ablenkungsmanöver.
Kolumne vom 28.7.11 für az von Maya Graf, Nationalrätin Grüne BL, 2. Vizepräsidentin Nationalrat