Wie weiter in unseren Beziehungen mit der EU? Eine kleine Minderheit möchte - trotz europäischen Dauerkrisen und deutlicher Schweizerischer Ablehnung - der EU beitreten. Die meisten politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger verteidigen energisch den steinig gewordenen bilateralen Weg und verschliessen sich jeder Form von neuen Lösungen.
von Kathy Riklin, Zürich, Nationalrätin CVP, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission und der EU-EFTA-Delegation
Fakt ist, heute haben wir ein unübersichtliches Vertragswerk von rund 120 bilateralen Verträgen mit der Europäischen Union. Bereits im Jahr 2008 hat der Ministerrat der EU gefordert, die bilateralen Verträge - die künftigen wie die bestehenden - seien sowohl auf politischer wie auf judizieller Ebene zu dynamisieren. Seither kommen neue, für unsere Wirtschaft wichtige, Abkommen in den Bereichen Strom, Gesundheit, Landwirtschaft und Chemikalien nicht vom Fleck. Wenigen ist bewusst, dass die Schweiz kontinuierlich und einseitig EU-Recht übernimmt. Der „autonome Nachvollzug“ ist Schweizerische Rechtspraxis, und dies tut unser Land, notabene gewissenhafter als manche EU- Staaten.
Die ganz knappe Ablehnung des EWR am 6. Dezember 1992 gilt heute für alle – mit Ausnahme der chronischen SVP-EU-Gegner - als historische Fehlentscheidung. Das EWR-Nein hat unserem Land am Ende des 20. Jahrhunderts zehn Jahre wirtschaftliche Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit gebracht. Erst mit den bilateralen Verträgen konnte die Wirtschaft endlich die Exporte in die EU steigern. Die Bilateralen wurden nicht nur wegen dem freien Marktzutritt, sondern vor allem auch dank der damals von der EU geforderten Personenfreizügigkeit zum Erfolgsmodell.
Heute gehen rund 60 Prozent der Schweizer Exporte in die EU und 80 Prozent der Importe kommen aus der EU, d.h. die EU ist mit Abstand unser wichtigster Handelspartner!
Mit dem EWR aber wären wir schneller, effizienter und umfassender nicht nur zu dem inzwischen mühsam ausgehandelten Status quo mit der EU gekommen, sondern hätten eine diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt gehabt. Beispielsweise verlor die damalige Swissair 10 Jahre bis das Luftverkehrsabkommen gleiche Freiheiten ermöglichte; dies inmitten einer dynamischen Kooperations- und Konzentrationsphase der Branche. Hinzu kommt, dass die Schweiz im Luftverkehrsabkommen die Zustándigkeit des EU-Gerichtshofs anerkennen musste,
Seit Jahren hat die EU-EFTA-Delegation des Schweizerischen Parlamentes, deren Mitglied ich bin, einen Beobachterstatus bei den EWR-Sitzungen Liechtensteins, Norwegens und Islands mit den EU-Verantwortlichen. Bei 98 Prozent der jährlichen Gesetzesanpassungen an den „Acquis communautaire“ handelt es sich um völlig unproblematische, rein technische Anpassungen. Bei den umstrittenen EU-Forderungen, z.B. der Postliberalisierung für Norwegen – machen die betroffenen Länder von der Möglichkeit der gestaltenden Mitsprache Gebrauch. Mit anderen Worten, der EWR funktioniert für unsere EFTA-Partner ausgezeichnet. Insbesondere für Liechtenstein ist er zum grossen Erfolgsmodell geworden.
In den letzten Jahren sind viele angebliche Schweizer Tabus (Bankgeheimnis) Geschichte geworden. Auch Schweizer Versicherungen und Banken möchten inzwischen die Dienstleistungsfreiheit mit der EU haben. Heute spielen die EU-EWR-Gegner der Begriff Souveränitätsverlust hoch, doch niemand will und kann dieses Schlagwort mit echtem Inhalt füllen.
Einen EWR+-Beitritt (mit Anpassungen, daher plus), könnten wir relativ einfach und rasch aushandeln. Die EU ist offensichtlich bereit dazu. Sie möchte nicht mit jedem Nicht-EU-Mitglied einen separaten, komplizierten Weg beschreiten. Und auch die übrigen europäischen Nicht-EU-Mitglieder könnten in diese Interessengruppe einbezogen werden, die Türkei und Serbien beispielsweise, welches bereits Mitglied in unserer IWF-Stimmrechtsgruppe ist.
Blocher rüstet bereits wieder auf gegen die EU und alle engeren Verbindungen mit ihr. Die SVP hat immer wieder Nein gestimmt bei wichtigen bilateralen Verträgen. Diese Partei wird für pragmatische Lösungen nicht zu gewinnen sein, sie ist in solchen Fragen keine Wirtschaftspartei mehr. Doch inzwischen hat auch die produzierende Wirtschaft gemerkt, dass ein EWR+ eine Lösung für die festgefahrenen Beziehungen zur EU sein könnte.
Am 19. Oktober haben sich Christoph Mäder, Präsident von Scienceindustries (Chemie, Pharma) und Hans Hess, Swissmem-Präsident offen für eine EWR-Lösung gezeigt: «Der EWR ist möglicherweise eine Alternative. Dort waren die institutionellen Fragen bereits einmal gelöst. Das müsste man auf jeden Fall genauer anschauen. Man muss immer einen Plan B haben».
Seit zwei Jahren bin ich zum Schluss gekommen, dass eine EWR-ähnliche Lösung für die Schweiz zielführend wäre. Das auf die Schweiz massgeschneiderte EWR-Abkommen muss der Öffentlichkeit wieder bekannt gemacht werden.
Fakt ist, die Schweizerinnen und Schweizer wollen in nächster Zeit nicht der EU beitreten. Zu gross sind die Vorbehalte, zu wenig attraktiv ist ein EU-Beitritt. Der EWR+ ist eine echte Alternative - und eine späte Schmach für Blocher. Denn bilateral weitermachen geht nicht, wenn die andere Seite nicht mehr will.