Die „Öffentliche Entwicklungshilfe“ (APD) der Schweiz umfasst 2010 in ihrem Gesamt-Budget von 2,4 Milliarden Franken die Ausgaben der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und des Bundesamtes für Migration (BFM). 1,75 Milliarden beanspruchen die Gesamtausgaben der DEZA und des SECO. Auf das Bundesamt für Migration entfallen 396 Millionen, davon für Hilfe an Asylsuchende in der Schweiz 380 Millionen Franken. Für die gesamte Entwicklungshilfe investiert die Schweiz 0,41 % ihres Brutto-Nationaleinkommens (BNE).
Stünde nicht ihre Reputation auf dem Spiel, würde sich die UBS die 2,3 kürzlich in London (möglicherweise durch das Versagen der Aufsicht) verzockten Milliarden - etwas salopp, aber durchaus im Sinn ihrer Kommentare ausgedrückt - locker ans Bein streichen. Too big not to fail.
2,4 Milliarden für die gesamte öffentliche Entwicklungshilfe, 2,3 Milliarden UBS-Verlust bei spekulativen Geschäften. So sind die Relationen bestellt. Sollte sich die Schweiz die Kosten ihres Asylwesens und eine effizientere Entwicklungszusammenarbeit nicht leisten können? Sie wäre jedenfalls in der Lage, ihre Ausgaben für Entwicklung um Prozentbruchteile ihres BNE der Höhe des Budgets der skandinavischen Staaten noch etwas anzunähern. Der Reputation eines Landes, welches auf seine Tradition humanitärer Hilfe Wert legt, würde es jedenfalls anstehen. Eine effizientere Erfüllung der Aufgabe wäre dringender denn je und zwar im Interesse aller.
Gerade Entwicklungsländer und Gesellschaften, welche - wie gegenwärtig zum Beispiel im arabischen Raum - ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen, werden Vermittlung und Hilfe brauchen: zum Beispiel beim Aufbau einer zuverlässigen, gegen Korruption möglichst immunen Verwaltung oder eines funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens. Auch die Entwicklung der Frauenrechte ist nach wie vor eines der wichtigsten Themen. Die Aufwertung der Frauenarbeit verdankt der Entwicklungshilfe in Regionen, wo Armut, Männerrecht und Klientelismus vorherrschen, entscheidende Impulse. Findet Frauenarbeit Anerkennung, weil sie sich ökonomisch lohnt, wächst auch die Chance, die rechtliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern abzubauen.
Veränderungen der Perspektiven und Möglichkeiten von Entwicklungszusammenarbeit sind im politischen und langfristig auch wirtschaftlichen Interesse der Industrieländer nötig. Die Zusammenarbeit leistet einen wesentlichen Beitrag, damit Entwicklungsländer sich in die Lage versetzen können, Märkte aufzubauen und die Existenz ihrer Bevölkerung durch Produktivität zu sichern. Die notwendigen Veränderungen setzen etwas Entscheidendes voraus: Wille zur Transparenz und Sinn für Verteilungsgerechtigkeit.
Transparenz der Erfolgsrechnung ist bei internationalen Geschäften von Grossbanken, Handels- oder Industrieunternehmen ebenso nötig wie bei Projekten staatlicher und privater Entwicklungsorganisationen. Mehr Transparenz ist insbesondere bei der Realisierung industrieller Grossprojekte durch multinationale Konzerne und Konsortien in Ländern mit autoritären und fragilen Herrschaftsverhältnissen zu erwirken. Nachdem die Regeln einer funktionierenden Marktwirtschaft im Austausch mit den Regionen der „dritten Welt“ zu lange gebrochen worden sind, ist das Projekt Verteilungsgerechtigkeit ein Gebot der Mitverantwortung für eine tragfähige Weltordnung. Es ist ein Friedensprojekt.
Afrika sich selbst überlassen? Wer wie nicht nur Politiker im Umkreis der SVP sagt, Afrika versinke im Chaos, die Entwicklungshilfe werfe Steuergelder in einen grundlosen Brunnen und der Strom von Migranten habe je kein Ende, der verkennt die Perspektive historischer Entwicklungen, mit welchen Schicksal und Schuld europäischer (auch schweizerischer) Geschichte unablösbar verflochten ist. Zu viel Vertrauen ist hintergangen und zerschlagen worden. Ländern mit klimatischen, strukturellen und gesundheitlichen Problemen die Zuwendung zu entziehen, heisst: ihre Bevölkerung der Willkür korrupter Machthaber und den kapitalistischen Interessen von Geschäftemachern zu überlassen. Staatliche Entwicklungsorganisationen, welche heute in Kooperation mit privaten Hilfswerken sowie internationalen Organisationen und Fonds (zum Beispiel für Welternährung und Agrarforschung) solche Länder partnerschaftlich unterstützen, haben nachweisbar erfolgreich geholfen, deren Lebensgrundlagen zu verbessern. Trotz schwerster kriegerischer Auseinandersetzungen kann Entwicklungspartnerschaft regional immer wieder eine relative oder dauerhafte Stabilität sichern helfen.
Mit der Kommerzialisierung hat der Trend quantitativer Evaluationsstandarts zur Leistungsmessung in allen Bereichen zugenommen. Quantitative Indikatoren zur Beurteilung komplexer Wirkungszusammenhänge von Entwicklungshilfe sind aber - auf einen begrenzten Zeitauschnitt bezogen - in der Regel unzulänglich. Manche von denen, welche wohl einmal das Mäntelchen des Gutmenschen an den Nagel hängten, haben die traditionelle Entwicklungshilfe zu Recht kritisiert. Doch multilateral vernetzte Entwicklungszusammenarbeit wird nicht mehr von Gutmenschen und Sektierern organisiert. Eine Lobby, welche heute Entwicklungshilfe auf Grund von Fehleinschätzungen und Misserfolgen, von denen ja auch die Wirtschaft betroffen ist, mit dem Pauschalverdacht belastet, aus naiver Profiliersucht Steuer- und Spendengelder zu verschleudern, verschliesst die Augen vor dem Resultat ihrer selbstkritischen Reform. Sie generalisiert gerne und blendet allzu leichtfertig die historische Perspektive und Sonderbedingungen regionaler Entwicklungen aus.
In Europa ist die Geschichte nach eine langen Epoche des Blutvergiessens, nach revolutionären Umwälzungen, gewaltsamer Reaktion, Bürgerkriegen, nationalem Machtrausch und Terror, dem Völkermorden zweier Weltkriege sowie der unheilvollen ideologischen Spaltung in eine Phase relativer Stabilität übergetreten. Das EURO-Projekt ist überrissen, der EU-Bürokratismus gigantisch. Die Disparität zwischen den Regionen und das Ausmass finanzieller Interdependenzen sind schwer kalkulierbar. Doch eine Reform der EU, welche die föderativen Elemente und mit ihnen die Regionalisierung stärkt, ein Europa sogenannter Gebietskörperschaften, ist denkbar. Das Friedensprojekt EU ist gefährdet, aber es hat eine Chance zu bestehen, wenn die Politik sich an ihre solidarische Verantwortung für den Frieden und die Garantie der Menschenrechte erinnert.
Und wie steht es um die Gretchenfrage nach unserer nationalen Wehrhaftigkeit? Der Bundesrat stellte sich anlässlich der Debatte um die Aufstockung des Militäretats gegen einen voreiligen Sonderfonds zur Beschaffung von Kampfflugzeugen. Er strebt in der Budgetfrage zu Recht grösstmögliche Transparenz der Entscheidungsgrundlagen an.
Haben wir es nötig, das eine gegen das andere auszuspielen? Wer sagt, wir bräuchten neue Kampfflieger, der muss aus Verantwortungsgefühl für Gerechtigkeit und Frieden auch bereit sein zu sagen: Wir brauchen (!) den Einsatz der Entwicklungshilfe. Wir können sie uns leisten.