Die Schweizer Wirtschaft wächst, ihre Leistung steigt, die Bevölkerung nimmt zu und der Verkehr ebenfalls. Im Gegenzug häufen sich die Klagen. Man sieht nicht mehr nur die Vorteile dieses Wachstums, zunehmend zeigt sich auch die Kehrseite der Medaille. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union unter Beschuss geraten. Wir haben den bilateralen Weg gewählt und sind bis heute gut gefahren damit. Die Personenfreizügigkeit gehört dazu, ist gar ein Kernstück und juristisch verknüpft mit sämtlichen Dossiers des ersten Pakets der bilateralen Verträge. Der Bilateralismus ist die Art, über die wir unser Verhältnis mit der EU definieren.
Bevor wir jedoch diesen Grundsatz infrage stellen, sollten wir mögliche Alternativen prüfen. Nur, ich sehe keine. Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit? Angesichts von mittlerweile 27 EU-Staaten sind die Risiken von Gegenforderungen unabsehbar. Aber auch bei der Tagesordnung bleiben ist angesichts des hohen Bevölkerungswachstums mit all seinen Begleiterscheinungen keine Option mehr. Wer die Kritik überhört, nimmt in Kauf, dass die Akzeptanz der schweizerischen Migrationspolitik sehr schnell schwindet.
Die Personenfreizügigkeit ist vor allem aus gesellschafts- und migrationspolitischen Gründen in die Kritik geraten. Es muss uns also gelingen, die Vorteile der Freizügigkeit beizubehalten und gleichzeitig die unliebsamen Begleiterscheinungen weitgehend zu eliminieren. Dazu braucht es eine migrationspolitische Analyse, eine Auslegeordnung also in jenem Bereich, in dem die lauteste Kritik zu vernehmen ist.
Die drei Bereiche der Einwanderung analysieren
Aufgrund der hohen Einwanderungsquote wächst die schweizerische Wohnbevölkerung sehr rasch. In den 70er-Jahren nahm die Gesamtbevölkerung um 135000 Menschen zu. In den Achtzigern waren es insgesamt 370000 Personen. In den Neunzigern wuchs die Bevölkerung bereits um 490000 Menschen an. Und in den 2000er-Jahren lebten Ende 2009 über 621000 mehr Menschen in der Schweiz als zu Beginn des Jahres 2000.
Die Einwanderung erfolgt hauptsächlich über drei Bereiche: Die Personenfreizügigkeit, die Einwanderung von ausserhalb der EU, also aus Drittstaaten, und über den Asylbereich. Die Einwanderung über die Personenfreizügigkeit reagiert am schnellsten auf die wirtschaftliche Entwicklung. Dies im Gegensatz zu jener aus Drittstaaten, bei der allein der Familiennachzug über 50 Prozent ausmacht. Im Asylbereich ist die Vollzugspraxis mehr oder weniger kollabiert. Entsprechend hoch ist denn auch die Einwanderung über diesen Weg. Bevor man den bilateralen Weg der Schweiz zu zerstören beginnt, müssen alle Zuwanderungsbereiche überprüft werden. Die Kritiker der Personenfreizügigkeit übersehen mit grosser Hartnäckigkeit, dass diese nur zwei Drittel der gesamten Einwanderung ausmacht und alljährlich über 40000 Menschen aus Drittstaaten neu in die Schweiz ziehen. Die Rekrutierung von gut qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten ist durch Kontingente begrenzt. Es kommen aber weniger als 10 Prozent der Einwanderer aus Drittstaaten über diese Kontingente als qualifizierte Arbeitskräfte zu uns.
Wir haben Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Anwendung, sei es bei der Einwanderung aus Drittstaaten oder beim Asylwesen. So ist der Familiennachzug im Drittstaatenbereich auf das völkerrechtliche Minimum zu beschränken und im Asylbereich sind rasche Vollzugsverbesserungen vorzunehmen. Aber wir können auch Fehlentwicklungen im Bereich der Personenfreizügigkeit unterbinden, ohne das Freizügigkeitsabkommen im Kern zu gefährden. So können die in die Schlagzeilen geratenen Scheinselbstständigen verpflichtet werden, ihre Selbstständigkeit nachzuweisen. Bei länger anhaltender Arbeitslosigkeit kann eine neu zu erteilende Bewilligung in ihrer Dauer gekürzt werden, Temporärfirmen haben eine Auskunftspflicht gegenüber den Aufsichtsbehörden usw.
Mit einem konsequent umgesetzten Bündel an Massnahmen lässt sich vieles im Migrationsbereich bewegen, ohne gleich den bilateralen Weg in Frage zu stellen und zu gefährden. Es liegt allein am politischen Willen.
(Erstpublikation: Handelszeitung 26.05.2011)