Referat vom 26.06.12
Vor zwei Monaten waren wir in La Chaux-de-Fonds. Dort haben wir vor der Desindustrialisierung der Schweiz gewarnt. Wir haben den Fokus auf die Politik der Nationalbank gelegt. Wir haben verlangt, dass am Mindestwechselkurs festgehalten wird. Wir haben vom Bundesrat gefordert, dem Werkplatz endlich die nötige Aufmerksamkeit zu widmen und die Spekulanten in die Schranken zu weisen. Wie notwendig dieser Auftritt war, hat sich rasch gezeigt. Es ist keine Woche vergangen, bis die grössten Spekulanten des Landes, die Herren Grübel und Blocher, die Abschaffung dieses Mindestkurs verlangt haben. Damit sind sie der Nationalbank geradezu in den Rücken gefallen.
Dass Nationalrat Blocher dann seine Meinung angeblich geändert hat, passt ins Bild. Es gibt kein wirtschaftspolitisch wichtiges Dossier, wo er nicht seine Haltung laufend wechselt wie es im gerade ins Konzept passt: zuerst für die Personenfreizügigkeit, dann dagegen. Zuerst gegen den Staatsvertrag mit den USA in der Causa UBS, dann dafür. Zuerst für die Spaltung der Grossbanken, dann doch dagegen. Zuerst gegen, dann für, dann dagegen und schlussendlich doch für den Mindestkurs der SNB. Es ist keine Politik mehr, es ist ein Ballet, ou les pirouettes du „patinage artistique“ si vous préférez. Wenn jemand eine solche Flexibilität oder so viel Opportunismus bei den wichtigsten politischen Fragen zeigt, muss man sich nicht wundern, dass er im gleichen Atemzug die Classe politique verfluchen und gleichzeitig auf die Immunität des Parlamentariers pochen kann. Also ausgerechnet auf ein Privileg eben dieser Classe politique.
La Chaux-de-Fonds war der richtige Ort, um über Industriepolitik zu debattieren. Und Basel ist mit Sicherheit heute auch der richtige Ort, um sich über Europapolitik zu unterhalten. Wir befinden uns an der Grenze zu Frankreich und Deutschland. In einer der offensten Städte der Schweiz, mit einer grossen kulturellen Durchmischung. Ganz besonders in diesem Quartier, wo wir heute sind, in Klein-Basel. In der Stadt, wo vor 100 Jahren der Friedenskongress der sozialistischen Internationale stattgefunden hat. In einer dieser Städte, welche die Geschichte der Sozialdemokratie geschrieben hat.
Ich habe kürzlich gelesen, dass man nicht mehr über Europa nachdenken darf. Unser Armeeminister, findet, in der Weisheit seines Amtes, dass diejenigen die einen EU-Beitritt befürworten, „nicht alle Tassen im Schrank haben“. Man kann streiten, ob diese Ausdrucksweise eines Bundesratesmitglieds würdig ist. Man kann diesen Streit aber auch lassen. Maurer ist nicht das erste Regierungsmitglied, das grob und undifferenziert über seine Gegner flucht. Ich kann hier an das berühmten „Casse-toi pauvre con“ von Nicolas Sarkozy, oder an das Macho-Gehabe von Berlusconi erinnern. Nur, und das sollte Ueli Maurer zu denken geben, wurden beide abgewählt. Weil das Volk, am Ende des Tages, ein anderes Verhalten von seinen Führungsleuten erwartet. Zu Recht!
Im gleichen Interview, in einer deutschen Zeitung notabene, erklärt Ueli Maurer auch, ohne falsche Bescheidenheit, dass die Schweiz das beste politische System habe. Es ist logisch. Es führt auf die beste Armee der Welt zurück. Man könnte auch streiten darüber, ob der Leistungsausweis von Ueli Maurer, ihm eine solche Arroganz erlaubt. Ich muss es zugeben: den Kauf von neuen Armeevelos scheint er über die Bühne bringen zu können. Für die Flugzeuge, ist es schon schwieriger. Und bei der Definition der Ziele und der Aufgaben der Armee, ist er masslos überfordert. Wenn ich mir einen Ratschlag erlauben würde, dann wäre es sich zuerst bei der Armeefrage einzuarbeiten, bevor er daran denkt, die Aussenpolitik zu übernehmen und anderen Staaten Ratschläge zu erteilen. Nur wer etwas leistet, wird ernstgenommen. Auch in der Politik. Und auch im VBS.
Aber Genossen und Genossinen, einen Streit müssen wir mit Ueli Maurer aufnehmen. Er träumt davon, mit seinen Militärvelos die Schweiz vor der Entwicklung in Europa schützen zu können. Er erklärt den Europäern die Schweiz, wie wenn wir auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Welt leben würden.
Unsere Bevölkerung weiss, dass dem nicht so ist. Egal wie man zur Frage eines EU-Beitritts steht, eines lässt sich nicht wegreden: wir sind mittendrin. Wir sind immer mitbetroffen: wenn Griechenland und Spanien husten, beginnt unsere Wirtschaft zu zittern. Die Geld- und Wirtschaftspolitik der EU-Länder beeinflusst direkt die Situation in der Schweiz. Dagegen helfen auch kein chauvinistisches Gehabe und keine deplatzierte Schadenfreude. Die Nationalbank musste wahrscheinlich in den letzten Wochen hunderte von Millionen Euro kaufen, um den Frankenmindestkurs zu halten. Und eine Verschärfung der Wirtschaftskrise in Europa hätte Auswirkungen nicht nur in der Währungsfrage, sondern würde auch ganz direkt in einer Verlangsamung des Wachstums in der Schweiz münden und somit Stellen kosten und die Arbeitslosigkeit wieder ansteigen lassen. . Was in der EU passiert, ist uns nicht egal. Es darf und kann uns nicht egal sein. Weil wir unmittelbar davon betroffen sind. Und weil wir, wie viele in Europa, mit dem jetzigen politischen Kurs von Europa nicht einverstanden sind. Eine Politik die Brüssel massgeblich aus Berlin diktiert wird.
Ich war am 6. Mai in Paris. Um den Sieg von François Hollande zu feiern. Vor zehn Jahren, hatte ich schon an einer gigantischen Demonstration in der französischen Hauptstadt teilgenommen. Jean-Marie Le Pen war damals für den zweiten Wahlgang noch im Rennen. Es war mir wichtig, mit einer Million weiteren Menschen, zu sagen, dass es für solche Leute, wie Le Pen einer ist, in Europa kein Platz an der Spitze eines Landes geben darf. Es war eine traurige Demo. Es ging nicht darum, eine Veränderung in der Gesellschaft zu tragen, sondern lediglich darum, das Schlimmste zu verhindern und auf das kleinere Übel zu setzen.
Es waren damals, kurz nach der Jahrtausendwende, Zeiten, wo die Sozialdemokratie 12 der 15 Regierungschefs in den EU-Mitgliedstaaten gestellt hat. Es hätten Zeiten der Hoffnung sein können. Es waren aber vor allem Zeiten der Enttäuschung. Statt die EU sozialer zu machen, wurde sie noch stärker den Neoliberalen ausgeliefert. Statt die EU wirklich demokratischer zu gestalten, wurde sie noch zentralistischer organisiert. Statt Vertrauen weckte die EU Skepsis bei der Bevölkerung in ganz Europa.
Sozialdemokratische Selbstkritik ist nötig. Selbstkritik wird auch in den meisten Ländern geübt. Unsere Schwesterparteien haben heute in der sozialen Frage oder beim Service public eine – aus meiner Sicht – klarere Linie als damals. Heute baut die europäische Sozialdemokratie ein Projekt, das auf das Recht auf Arbeit fokussiert ist, ein Projekt, das die Sorgen und Nöte der Arbeitnehmenden ins Zentrum rückt. Ein Projekt, das den Finanzmärkten die Stirn bieten will. Und wieder Hoffnungen weckt.
Es ist wichtig und richtig, dass die Sozialdemokratie wieder vereint aufsteht. Dass ein gemeinsames Projekt entwickelt wird. Seit den Zeiten von Blair und Schröder haben wir die konservativen und liberalen Regierungen in Europa erlebt. Bis zum 6. Mai haben sie unter der Führung von Merkozy den Kurs festgelegt. Sie stellten die Regierung in 22 der 25 EU-Länder. Sie haben entschieden die Banken mit Staatsgeldern zu unterstützen, sie haben in den meisten Ländern – inklusive Deutschland – die Staatsschulden in die Höhe schnellen lassen. Darum ist es absurd, wenn ich hier und dort lese oder höre, dass die EU-Krise eine Krise der Sozialdemokratie ist. Es ist doch genau umgekehrt. Es ist das Ergebnis einer falschen Wirtschaftspolitik der Bürgerlichen, die in den letzten Jahren systematisch die Interessen der Finanzinstitute über die Interessen der Bevölkerung gestellt haben.
Das ist eine Krise des Raubtierkapitalismus, die sie zur Staatsdoktrin erhoben haben. Es ist eine Krise die verschärft wird, durch die Unfähigkeit, politische Antworten auf aktuelle Fragen zu finden. Und die Unfähigkeit ist nicht erstaunlich: ihre Ursache liegt in der bürgerlichen Überzeugung, dass nur der Markt die richtigen Antworten geben kann. Dieser blinde Marktglaube ist das ideologische Fundament für die Macht der Rating-Agenturen, die Spanien, Portugal oder Griechenland in den Ruin treiben. Es ist dieser Irrglaube, der zuerst die Finanzwelt und mittlerweile auch verschiedene Staaten an den Rand des Abgrunds geführt hat.
Seit dem 6. Mai können wir aber auf eine Änderung dieser Politik hoffen. Mit Francois Hollande werden die Karten neu verteilt. Es besteht zum ersten Mal seit Jahren die Hoffnung, Europa sozialer und offener gestalten zu können. Und die starke Präsenz der Vertreter der Schwesterparteien in Europa am Abend des Wahlsiegs in Paris, ist ein Zeichen, das positiv stimmt. Alle beginnen zu spüren, dass nach Dänemark und Frankreich, weitere Machtwechsel denkbar sind, gerade in Deutschland. Immer mehr wird der Bevölkerung klar, dass die Austeritätspolitik der Konservativen gründlich gescheitert ist - und dies nicht nur im Süden. Dass ohne konsequente Fokussierung auf die Beschäftigung und somit auf die Menschen, kein Weg aus der Krise zu finden ist. Dass wir das Primat des Finanzplatzes auf der Werkplatzes in Frage stellen müssen.
Ich weiss nicht, wann die Schweiz der EU beitreten wird. Aber eines weiss ich: wir als Schweizer Sozialdemokratinnen und -demokraten dürfen nicht abseits stehen. Wir müssen auch im Inland die Diskussion über die Ausrichtung der EU führen. Als Zeichen des Internationalismus, das zu unserer Identität gehört. Aber auch weil mit der Ausrichtung der EU auch ein Teil unserer Zukunft zusammenhängt.
Ich danke euch deshalb, heute nach Basel gekommen zu sein. Ich freue mich sehr auf die Diskussion und die Beiträge von Catherine Trautmann, von Vasco Pedrina und von Peter Friedrich.
Neben dieser wichtigen Diskussion werden wir heute ein weiteres Thema besprechen. Simonetta Sommaruga wird uns über die Entwicklung des Asylrechtes orientieren. Eine besorgniserregende Entwicklung.
Auch für uns steht es ausser Diskussion, dass wir punktuell im Asylbereich mit Schwierigkeiten konfrontiert sind. Und unsere Leute in den Asylheimen, in den Migrationsämtern, in den NGO, die sich in diesem Bereich engagieren, alle diese Leute bestätigen, dass sich die Situation verschärft hat. Sie versuchen deswegen bei der Minderheit, welche Probleme macht, konkrete Lösungen zu entwickeln, eine engere Betreuung zu gewährleisten und diesen jungen Männern tagsüber sinnvolle Beschäftigungen anzubieten. Und Simonetta Sommaruga ist es auch gelungen, wieder Migrationsabkommen abzuschliessen - nachdem ihre Vorgänger seit Ruth Metzler dies vernachlässigt haben. Also in einem Wort: die Behörden handeln. Sie schauen, dass Schutz denjenigen gewährt wird, die es brauchen – es ist immerhin die Hälfte der Asylsuchenden! Und dass die anderen während des Verfahrens in Würde in der Schweiz leben können und sie dann auch in Würde verlassen.
Heute schon stellen sich wichtige, schwierige Fragen: Zwangsausschaffungen tragen, als ultima ratio, zur Glaubwürdigkeit des Asylwesens bei. Sind sie aber in der aktuellen Form vereinbar mit unserem Menschenbild? Erschweren wir nicht unnötig die Integration der Hälfte der Asylsuchenden, die bleiben werden mit Arbeitsverboten während des Verfahrens? Es sind Fragen unter vielen anderen, die wir anfangs September in Lugano, am Parteitag behandeln werden.
Und ich freue mich auf diese Diskussion. Dass ihr diese Diskussion auch führen möchtet, beweisen die gegen 850 Anträge, mit denen ihr auf unseren Entwurf eines Migrationspapiers reagiert habt. Wenn die Asyldebatte der letzten Wochen etwas bewiesen hat, dann das: die SP hat eine historische Verantwortung bei der Definition einer kohärenten Migrationspolitik, die von unseren Werten geleitet wird, aber gleichzeitig der Realität Rechnung trägt. Was sich die Bürgerlichen geleistet haben – allesamt, von der CVP zur SVP, über die FDP, die GLP und die BDP – ist inakzeptabel und stellt im Ergebnis eine Verleumdung ihrer eigene Geschichte dar. Man könnte sich lange unterhalten. Über die Bedeutung des C bei einer Partei, die finanzielle Hilfe an Leute auf 8 Franken im Tag reduzieren will. Fürs Frühstück, Mittag- und Abendessen. Inklusive Hygieneartikel. Und allenfalls Zigaretten.
Was mich aber politisch am meisten schockiert hat, ist die Haltung der FDP und ihres neuen Präsidenten, Philipp Müller. Es kommt gelegentlich vor, das wir mit dieser Partei unterschiedlicher Meinung sind, in der Wirtschafts- oder in der Finanzpolitik zum Beispiel. Es ist sogar vorgekommen, dass ein FDP-Präsident mich verklagen wollte, ohne dass ich mich auf die Immunität berufen hätte…
Aber bisher musste man dieser Partei einen Sinn für das Machbare attestieren, die Sorge um konkrete Lösungsansätze. Es war die Partei, die den Staat von 1848, zusammen mit uns, gegen den konservativen Widerstand aufgebaut hat. Und es ist diese Partei, die ihre eigenen liberalen Werte letzte Woche über Bord geworfen hat. Unter der Führung des 18%-Müller. Es ist diese Partei, die ungeachtet der Realität und der konkreten Lösungsansätze blind und willenlos der SVP nachgebetet hat. Dass die Hälfte seiner Anträge jedoch wirkungslos ist, dass einige Ideen die Situation gar verschlimmern werden, das alles kümmert Philipp Müller nicht. Es geht ihm nur darum, der Bevölkerung ein Signal zu geben. Koste es was es wolle. Und Philipp Müller hat dabei sogar Blocher rechts überholt, was wirklich eine ganz besondere Leistung ist.
Das Versagen der FDP und einer Mehrheit der CVP ist offenkundig. Gestandene Herren – Damen gibt es wenig – haben die Nerven verloren und dem Volk ein Signal aussenden wollen. Auf Kosten der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Das ist ethisch zu verurteilen. Es ist politische Feigheit und es schreit geradezu nach einer Korrektur. Ich appelliere an die Kantone, an die Gemeinden, an die Verbänden, welche mit Migrantinnen und Migranten arbeiten. Ich appelliere an bürgerliche Politikerinnen und Politiker, die mit uns feststellen wie die jetzigen Wortführer ihrer Parteien ihre eigen Werte verraten: Steht auf. Sucht mit uns für menschenwürdige Antworten auf die Schwierigkeiten, die durchaus vorhanden sind. Mit ihrer Aktion zerstören Christoph Blocher, Philipp Müller und Gerhard Pfister ein Stück Schweiz. Unsere humanitäre Tradition, insbesondere. Aber auch dieses Selbstverständnis, dass wir in der Regel um konkrete Fragen und Lösungsansätze streiten - bei allen politischen Differenzen. Nicht um dubiose Signalen auf Kosten der Schwächsten.